Elternabend in der 7. Klasse Das Protokoll einer "digitalen Eskaltion"

Ein Pilotprojekt wird aus den Fugen geredet.

Wenn Eltern zum Bremsklotz für Ideen und Elan werden.

Zugegeben, es ist schon etwas länger her, dass ich an einem Elternabend teilgenommen habe. Geprägt von meiner bisherigen Erfahrung mit Elternabenden, bin ich ein wenig voreingenommen in diesen Termin gegangen. Was ich dort jedoch erlebt habe, hat mich erstaunt und positiv überrascht. Ich habe mein Bild von Eltern, Schule und Organisation angepasst und bin dennoch am Ende mit einem zwiespältigen Gefühl nach Hause gegangen. Und das kam so:

18:55 Uhr| Ich betrete das Klassenzimmer

Ich betrete das Klassenzimmer meiner Tochter. Es begrüßt mich ein nicht zu übersehender 75-Zoll-Bildschirm hinter dem Lehrerpult, der natürlich erstmal meine volle Aufmerksamkeit genießt. Auf der grünen Schultafel daneben steht ein freundliches «Herzlich Willkommen liebe Eltern». Geschrieben mit einem dünnen Kreidestrich. Für mich, mit meiner Kurzsichtigkeit, ist es erst beim zweiten Hinsehen zu erkennen. Die Tafel wirkt neben dem Bildschirm, wie ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit und ich freue mich, dass ich wahrscheinlich dennoch alles mitbekommen werde, weil es ja den großen Bildschirm gibt.

19:00 Uhr | Die Show beginnt

Der Klassenlehrer leitet den Abend ein. Er packt sein Tablet aus, verbindet es mit dem Monitor und es geht los. Auf den Punkt! Alles perfekt vorbereitet. Ein Thema nach dem anderen wird strukturiert abgearbeitet. Keine Powerpoint-Show, kein Firlefanz. Eine handschriftliche Agenda wird Punkt für Punkt abgehakt. Bodenständig und effizient. Ich kann mitschreiben, bekomme Infolinks und fühle mich völlig «abgeholt». So macht Schule Spass!

19:30 Uhr | Ich bin geflasht – wir sind schon fertig, ODER?

Der offizielle Teil des Elternabends war nach 30 Minuten erledigt. Ich war wirklich positiv überrascht, hatte ich doch eigentlich ein anderes Bild im Kopf. Wir hätten alle nach 30 Minuten nach Hause gehen können, denn es war alles gesagt. Doch es kam anders.

Der Stein des Anstoßes

Man muss nun wissen, dass wir zu den Auserwählten gehören. Die Klasse meiner Tochter nimmt an einem Pilotprojekt teil, bei dem der Einsatz digitaler Medien (Tablet) im Schulalltag erprobt werden soll. Ergänzt wird dieses Projekt durch einen bestehenden Schulserver, der in der Corona-Zeit bereitgestellt worden ist und das Homeschooling ermöglichte.

Die Schüler arbeiten mit Ihren Tablets auf diesem Server, legen dort Ihre Arbeitsunterlagen ab, können mit dem Lehrer und Klassenkameraden kommunizieren usw. Eltern haben einen eigenen «Elternzugriff». Was will man mehr? Aus meiner Sicht ein «runde Sache», von der sich die Profis aus der Wirtschaft durchaus noch eine Scheibe abschneiden könnten.

19:31 Uhr | Die Diskussion beginnt – Ein Elternteil redet sich in Rage

Es meldet sich ein Elternteil zu Wort und äußert Bedenken zur «Zeit, die das Kind vor dem Tablet verbringt». Das ist durchaus ein ernstzunehmender Gedankengang. Der Lehrer nimmt die Kritik des Elternteils völlig professionell entgegen und macht noch einmal deutlich, dass es in diesem Pilotprojekt genau um die Erkundung des Einsatzes der Tablets geht. Er sichert zu, dieses Feedback in den extra gegründeten Arbeitskreis «Digitalisierung» der Schule einzubringen.

19:35 Uhr | Die Lage eskaliert

Ich denke mir: «Wow, die haben einen Arbeitskreis»? Während ich innerlich noch meinen Hut vor diesem professionellen Vorgehen ziehe, macht der besagte Elternteil weiter. Die Antwort des Lehrers war offensichtlich nicht befriedigend. Schnell steht der Vorwurf im Raum, dass die Schule fahrlässig den «Medienmissbrauch» der Kinder fördere. Ich denke mir: «WHAT»?

Es melden sich zwei weitere Elternteile zu Wort. Jetzt werden Thesen in den Raum gestellt, dass «die Jungs in der letzten Reihe im Unterricht nur Filmchen im Internet anschauen» und dass «die Mittagspause durchgezockt» wird. Schnell stellen die Wortführer die Forderung auf, Tablets zu sperren und das Arbeiten am Tablet auf ein Minimum zu regulieren. Und das alles nur, weil das Kind des ersten Elternteils sehr lange für die Anfertigung seiner Projektarbeit auf dem Tablet gebraucht hat? Um verständlich zu machen, was es mit diesen Projektarbeiten auf sich hat, muss ich kurz ausholen:

Exkurs | Projektarbeit

Mein Sohn hat früher dieselbe Schule besucht, wie meine Tochter heute. Es ist ein Bestandteil des Lernkonzeptes, dass die Klassen mehrere fächerübergreifende Themen bearbeiten. Aus jedem Schulfach fließen Arbeitsblätter und Informationen in ein solches Projekt ein. Am Ende muss jeder Schüler seine Arbeitsblätter vollständig zusammenführen und früher wurden sie dann als Buch gebunden. Im Rahmen des Pilotprojektes «Digitalisierung» gibt es nun kein Buch mehr. Die Schüler liefern Ihre Arbeit nun elektronisch ab.

Nächtliche Tiefflüge und Elterliche Taskforces

Das Dumme an Projektarbeiten war früher immer, dass die Abgabe des Buches zumindest für die Schüler immer – gefühlt - plötzlich kam. Ungefähr so, wie das jedes Jahr mit Weihnachten ist. Die Konsequenz: Um den Termin halten zu können, mussten für den eigenen Spross nächtliche Tiefflüge veranstaltet und elterliche Taskforces gebildet werden.

Mama hat sich mit Buntstiften bewaffnet und die Arbeitsblätter in Form gebracht – zumindest die, die da waren. Papa und Sohn haben den Rest gesucht und nicht selten die zerknüllten Fundstücke wieder glatt gebügelt.

Die Telefondrähte liefen heiß, weil Kumpel A das Übungsblatt 7 nicht mehr hatte, während Kumpel C sich das Übungsblatt 12 von Kumpel B besorgt hatte und es uns freundlicherweise per WhatsApp oder E-Mail zur Verfügung gestellt hat. Es war jedesmal Stress pur und stand einem weltweiten Rollout eines eCommerce-Systems kaum nach.

19:36 Uhr | Die Fortsetzung

Das Kind des ersten Elternteils, welches die Diskussion entfacht hat, hat also zu lange am Tablet gesessen, um genau eine solche Projektarbeit (elektronisch) fertig zu stellen. Es hat nicht «gezockt» und auch keine «Filmchen» geschaut. Es hat gearbeitet. Warum es so lange dafür gebraucht hat, ist nicht bekannt.

Da meine Tochter Ihre Projektarbeit bereits fertig hatte und ich nicht beobachten konnte, dass sie bis spät in die Nacht an der Fertigstellung gesessen hat, konnte ich besagten «Medienmissbrauch» nicht feststellen. Ich glaube nicht, dass sie sich mit besonderem Arbeitseifer in diesen Angelegenheiten hervortut, denn üblicherweise pflegt sie die schulischen Angelegenheiten nach dem Minimalprinzip zu erledigen! In keinem Fall würde ich jedoch die Schule dafür verantwortlichen machen.

In der ganzen anschließenden Diskussion fehlte mir eine ehrliche Differenzierung zwischen «Arbeiten» und «Daddeln» - die Trennung von «Nützlichem» und «Spaß an der Freude» - das Abwägen von «Vorteilen» und «Nachteilen». Die ganze Diskussion drehte sich um den Zeitaufwand, den ein einzelnes Kind für eine Arbeit gebraucht hat, mit der Schlussfolgerung, dass die Schule «Medienmissbrauch» fördere. Welche Zeit das Kind gebraucht hätte, wenn es die Arbeit nicht mit dem Tablet erledigt hätte, wurde nicht diskutiert.

19:45 Uhr | Ein erstes Zwischenergebnis

Selbst wenn meine Tochter ähnlich lang für Ihre Projektarbeit gebraucht hätte, kann ich aus Überzeugung beitragen, dass ich ein Nutznießer des Wandels war. Es war offensichtlich die erste Projektarbeit, bei der ich weder ein Bügeleisen auspacken musste, um zerknüllte Arbeitsblätter zu glätten, noch bei anderen Eltern und Schülern um Unterstützung anfragen musste. Da sich auch niemand bei uns gemeldet hat, kann ich ausschließen, dass ich mit meiner Erinnerung an die Projektarbeiten meines Sohnes falsch liege und es vielleicht daran liegen könnte, dass Mädchen einfach anders arbeiten.

Ich komme zu dem Schluss, dass der Einzug des Tablets im Klassenzimmer für meine persönliche Entspannung gesorgt hat. Die Dateien liegen alle fein säuberlich geordnet auf dem Dateisystem des Schulservers. Die Schüler loggen sich ein, laden fehlende Dateien herunter und füllen sie nochmal aus. Fertig! Der Lehrer steht mit Rat und Tat zur Seite, wenn es hakt, denn man kann ja über den Server kommunizieren. Eine enorme Arbeitserleichterung und Stressreduktion für geplagte Eltern, ermöglicht durch den Einsatz von Tablets und Schulservern. Ein Hoch auf die Digitalisierung!

20:00 Uhr | Das bittere Ende

Leider kam es, wie es kommen musste: Der Lehrer hat sich in der ganzen Diskussion wacker geschlagen, versucht aufzuklären und war um Konsens und Verständnis bemüht. Es war ein hervorragend vorbereiteter Elternabend, informativ, kurz und knackig. Die Diskussion am Ende war intensiv und wurde leider mit einem Kompromiss beendet, der mehr Regularien, bis hin zum Absperren des Klassenzimmers in der Mittagspause vorsieht.

Regularien ersetzen nun Vertrauen, obwohl der Lehrer dieses seinen Schülern schenkt und ganz offensichtlich auch genießt? Und das alles, weil ein einzelnes Kind sehr lange für seine Projektarbeit gebraucht hat? Weil eine Handvoll Eltern Thesen in den Raum werfen, und sog «Vergehen» anführen, die sie selbst nicht miterlebt haben? Auch auf diese Weise kann man Keile setzen, Arbeit erschweren und Schule wieder zur Pflichterfüllung degradieren!

20:45 Uhr | Ich sitze auf meinem beigefarbenen Sofa

Zeit zum Nachdenken und Schlüsse ziehen. Ich komme zu dem Ergebnis, dass ich mein angestaubtes Bild von der Schule revidieren muss. Ich bin auf einen sehr gut organisierten Lehrer getroffen, der mit viel Enthusiasmus und Elan seinen Beruf ausübt. Ich habe gesehen mit welchem Aufwand und welcher Energie die Schule daran arbeitet, die Schüler im Wandel der Zeit zu begleiten.

Für mich ist gestern klar geworden, dass die Aufklärungsarbeit zu Wandel und Digitalisierung nicht in der Schule, nicht bei den Lehrern und nicht bei den Schülern beginnen muss. Wir Eltern müssen uns an die eigene Nase fassen und evtl. Bereitschaft zeigen, selbst neu zu denken und schnellstens beginnen, uns auf Veränderung einzulassen. Alles in allem war es ein sehr gelungener Abend, informativ und hochspannend in der Diskussion, mit Argumentationen, die mich (leider) an so manche berufliche Situation erinnert haben.

Nachtrag

Während ich diesen Beitrag verfasse, kommt meine Tochter von der Schule nach Hause. Sie berichtet, dass der Elternabend Spuren beim Lehrer hinterlassen hat. Er war erstaunt und ein wenig schockiert aufgrund der Abschlussdiskussion. Auf meine Tochter wirkte er frustiert und einig nachdenklich, weil er selbst und viele Schüler eigentlich ein ganz anderes Bild hatten. Ich hoffe sehr, dass er sich nicht ausbremsen lässt und im Sinne unserer Kinder weiter mit seinem Elan am Wandel in der Schule arbeitet. Meine volle Unterstützung ist ihm dabei in jedem Fall sicher!

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